Zu lange weggeschaut!


Die Fahne des IS weht über Ramadi. Der sogenannte „Islamische Staat“ mordet und terrorisiert – und das nicht erst seit gestern. Noch immer ertrinken Flüchtlinge im Mittelmeer beim Versuch, einen Weg ins Überleben zu finden. Millionen Menschen sind vor Terror, Krieg und Mord auf der Flucht – auch das nicht erst seit gestern. Innenministerin Johanna Mikl-Leitner hingegen spricht von explosionsartig ansteigenden Flüchtlingszahlen. So als ob die Tatsache, dass immer mehr Menschen sich auf die gefährlichen Fluchtwege begeben, nicht vorhersehbar gewesen wäre. Jenen, die nun gegen die Errichtung von Zelten zur Kurzzeitunterbringung argumentieren, wirft Mikl-Leitner Realitätsverweigerung vor. Fragt sich, wer hier tatsächlich Realitätsverweigerung betreibt.
Der überwiegende Teil der Flüchtlinge aus dem Gebiet Syriens und des Irak hat in den Zeltstädten der Flüchtlingslager in umliegenden Staaten sowie in den Kurdengebieten Zuflucht und – zumindest vorübergehenden – Schutz gefunden. Hier geht es um Hunderttausende und nicht um Tausend. Johanna Mikl-Leitner verlegte sich in den vergangenen Wochen – übrigens gemeinsam mit Strache – auf Vorschläge wie etwa die Errichtung von sogenannten „Anlaufstellen“ der UNHCR in Nordafrika. Wohl in der Hoffnung, dass es hilft, die Augen vor den Realitäten zu verschließen und darauf zu hoffen, dass die Flüchtlinge so vernünftig sein mögen, nicht den Weg nach Österreich zu suchen und sich das „Problem“ weit weg von Österreich „erledigt“.

Die vermeintliche Notwendigkeit, Zelte als Übergangslösung zu errichten, ist ein Symptom des zu langen Wegschauens von Seiten des Innenministeriums. Anstatt die notwendigen Strukturen zu einem Zeitpunkt zu schaffen, wo ein Anstieg der Flüchtlingszahlen aufgrund weltweiter Zuspitzung der vielfältigen Konfliktlagen bereits absehbar war, ist man nun mit der Unterbringung von 1000 Personen überfordert.
Johanna Mikl-Leitner hielt anlässlich der Befreiungsfeier in der KZ-Gedenkstätte Ebensee eine Rede. „Nur wer sich der Kostbarkeit des Friedens und Freiheit tatsächlich bewusst ist, kann mit Stärke gegen jene Mechanismen einstehen, die diese bedrohen.“ Die Innenministerin sprach von Zivilcourage und der Notwendigkeit des Gedenkens. Vor dem Hintergrund der politischen Entscheidungen, die hier getroffen werden, wirken diese Worte mehr als zynisch. Jene, die tatsächlich Zivilcourage zeigen und sich für eine menschenwürdige Behandlung der Flüchtlinge aussprechen, werden von der Innenministerin als realitätsfremd bezeichnet.

Toten zu gedenken und von Verantwortung zu sprechen ist verhältnismäßig einfach. Zugleich jedoch politische Entscheidungen zu treffen bzw. nicht zu treffen, die jenen, denen heute der Tod droht, Missachtung entgegenbringt und Zivilcourage vermissen lässt, ist menschenunwürdig.